Wenn der Verdacht besteht, dass ein Mensch Multiple Sklerose hat und damit zum Neurologen geht, dann muss er sich einer Reihe von Tests unterziehen. Diese Untersuchungen mögen merkwürdig erscheinen, und vielleicht haben Sie sich gefragt, was der Zweck solcher Untersuchungen ist.
Die nächsten Beiträge stellen die Tests dar, die der Neurologe zu Sicherung (oder zum Verwerfen) der Diagnose Multiple Sklerose durchführt. Es wird erklärt, nach welchen Zeichen der Neurologe schaut und was sie bedeuten. Die Tests, die hier beschrieben werden, sind die, die üblicherweise durchgeführt werden. Es kann sein, dass Ihr Neurologe nicht alle hier beschriebenen oder auch andere Tests durchführt.
Oft ist es nicht nötig, dass Ihr Neurologe alle hier beschriebenen Tests mit Ihnen macht, und die Diagnose kann manchmal auch bestätigt (oder verworfen) werden, nachdem nur einige dieser Tests durchgeführt wurden. Weil die MS unterschiedliche Bereiche des zentralen Nervensystems (ZNS) betreffen kann, kann sie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen erscheinen. Die betroffene(n) Region(en) zu bestimmen, kann sich unter Umständen schwierig gestalten. Außerdem gibt es eine Reihe anderer Erkrankungen, die Symptome aufweisen können, die denen der MS ähnlich sind
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen Das Verfahren der differenzialen Diagnose beginnt damit, dass der Neurologe die Geschichte des Patienten aufnimmt. Trotz aller Fortschritte in der modernen Technologie macht diese Geschichte den wichtigsten Teil der neurologischen Untersuchung bei der Feststellung von MS aus.
Auf die Einzelheiten kommt es an Die ‘Geschichte’ ist eigentlich die Geschichte Ihrer Krankheit: derzeitige und vergangene Symptome, vergangene Kasuistiken wie z.B. Kribbeln, Taubheit, oder Blasen- und Darmprobleme sowie die Familiengeschichte. Der Arzt sucht, auf der Grundlage Ihrer Erzählung, nach charakteristischen Merkmalen und Symptomen. Sogar scheinbar unwichtige Einzelheiten wie z.B. 'ich war so abgelenkt durch das Kribbeln, dass ich meinen Zahnarzttermin verpasste' oder über 'die Krämpfe, die in meinem linken Bein begannen, aber dann, als sie zum zweiten Mal wiederkehrten, mehr ein dumpfer Schmerz waren', können sehr nützliche Informationen enthalten.
Es ist wichtig, dass der Neurologe so viel Informationen wie möglich bekommt, so dass er andere mögliche Ursachen oder Krankheiten ausschließen kann. Zum Beispiel kann Schwindel (ein häufiges Symptom der MS) auch durch Mittelohrentzündungen oder andere Störungen im Mittelohr verursacht werden. Verlust der Sehschärfe, Gleichgewichtsstörungen und undeutliche Aussprache sind alle symptomatisch für MS, aber sie können auch durch andere Krankheiten oder bestimmte Arzneimittel verursacht werden. Der Neurologe wird möglicherweise Tests durchführen, die nicht unbedingt MS-spezifisch sind, so dass er die Möglichkeit ausschließen kann, dass eine andere Krankheit vorliegt.
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen Um Probleme der Motorik (d.h. Probleme der Motoneuronen) festzustellen, beginnt der Neurologe möglicherweise damit, das Gehen zu beobachten, d.h., wie Sie gehen und wie weit Sie gehen können. Ebenfalls wird festgestellt, ob Sie eine Gehhilfe benötigen, was für eine Gehhilfe (z.B. ein Stock) und, ob Sie auf Dauer oder nur ab und zu eine Gehhilfe benötigen. Beschwerden beim Gehen könnten auf eine Anomalie der Pyramidenvorderstrangbahn, eine der Hauptmotorikstränge, die von allein Bewegungen steuert, hindeuten.
Untersuchung der Motorik
Gewöhnliche Motorik-Reflex-Tests beinhalten:
den Kniesehnen-Reflex-Test den Trizepssehnen-Reflex-Test den Fußsohlen-Reflex-Test Diese Liste ist jedoch nicht vollständig.
Beim Kniesehnen- und Trizepssehnen-Reflex-Test sucht der Neurologe nach raschen und übertriebenen Reflexreaktionen (Hyperreflexie) und Symmetrie der Reaktion zwischen der linken und der rechten Körperhälfte, was auf eine Anomalie im ZNS hindeuten kann
Trizepssehnen-Reflex-Test:Der Arzt klopft mit Schwung kurz über dem Ellbogen an der Außenseite Ihres Arms. Normalerweise streckt sich der Vorderarm während des Tests aus
Bei dem Fußsohlen-Reflex-Test ist eine normale Reaktion auf Kratzen an der lateralen Fußsohlenunterseite, dass der Große Zeh sich reflexartig nach unten beugt. Wenn der Zeh sich nach oben beugt, wird dies 'positive Babinski-Reaktion' genannt und ist häufig ein Zeichen für eine pyramidale Dysfunktion.
Fußsohlen-Reflex-Test: Der Arzt hält Ihren Fuß mit einer Hand und streicht mit einem spitzen Gegenstand (z.B. einem Schlüssel) entlang des lateralen Fußsohlenrands in Richtung der Zehen. Normalerweise bewegt sich der Große Zeh nach unten.
Während der Reflex-Tests schaut der Neurologe vermutlich auch, ob eine Asymmetrie vorliegt, d.h. wenn die Intensität eines Reflexes sich von der einen Seite des Körpers zur anderen unterscheidet.
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
Sobald die Motorikfunktion festgestellt worden ist, wird der Neurologe das System der Wahrnehmung überprüfen. Dies ist ein bedeutender Schritt in der differenzialen Diagnose, da er andere wichtige, neurodegenerative Krankheiten, wie z.B. die Motoneuronerkrankung, als Möglichkeiten ausschließt. Sinnesstörungen kommen z.B. bei der Motoneuronerkrankung nicht vor, während sie bei MS frühe Anzeichen sind. Sie können auf einer Seite des Körpers, in beiden Extremitäten oder in nur einer auftreten. Das erste Auftreten dieser Störungen ist bei jedem verschieden.
Zwei häufige Arten von Sinnesstörungen bei MS sind der Verlust der Temperatur- und Vibrationswahrnehmung. Die Vibrationswahrnehmung kann mit Hilfe einer Stimmgabel auf dem Großen Zeh getestet werden. Eine normale Reaktion ist, das Gefühl als 'Summen' oder 'wie Elektrizität' zu beschreiben. Anzeichen für eine Anomalie wären bei diesem Test, dieses Gefühl des Summens oder irgendeine andere Empfindung nicht zu spüren, was möglicherweise auf Läsionen im Rückenmark schließen läßt.
Der Arzt schlägt die Stimmgabel an, um die größte Vibration zu bekommen und plaziert sie auf Ihrem Großen Zeh. Dann befragt er sie nach Ihrer Empfindung
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
Ein häufiges Anzeichen einer Hirnstammfunktionsstörung bei MS sind zuckende Augenbewegungen (Nystagmus), die Doppelbilder verursachen können. Um diese feststellen zu können, wird der Neurologe Sie bitten, seinem Stift oder Finger zu folgen, wenn er ihn in verschiedenen Richtungen vor Ihnen und seitlich hin- und herbewegt.
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
Da das Zerebellum (Kleinhirn) den Gleichgewichtssinn steuert, gibt es einige Tests, um Anomalien dieses Teils des Gehirns ausfindig zu machen. Es ist ganz leicht: Der Neurologe prüft Ihren Gang, indem er Sie bittet, auf einer geraden Linie zu gehen, und stellt dabei fest, wie stetig Sie vorankommen. Andere Test sind der Romberg-Test, der Finger-Nasen-Test und der Fersen-Knie-Test.
Der Romberg-Test ist ebenfalls sehr einfach. Sie stellen sich hin, die Füße nebeneinander und die Augen geschlossen. Wenn Sie fallen sollten, könnte dies ein Anzeichen für eine Schädigung des Kleinhirns sein. (Stellen Sie sicher, dass jemand dabei ist, der Sie, falls Sie diesen Test zu Hause machen, im Notfall auffangen kann).
Bei dem Finger-Nasen-Test werden Sie gebeten, Ihre Augen zu schließen und Ihre Hand seitlich auszustrecken und in einem großen Kreis mit dem Finger letztendlich auf Ihrer Nase zu landen.
Als letztes der Fersen-Knie-Test: Dabei müssen Sie sich hinlegen. Der Neurologe wird Sie auffordern, Ihre rechte Ferse auf Ihr linkes Knie zu legen, oder umgekehrt, und langsam die Ferse hinunter zum Fuß zu bewegen. Dieser Test zeigt die Koordinationsfähigkeit und Ihr Vermögen, Entfernungen einzuschätzen (Dysmetrie). Bei einer schweren Dysmetrie wird die Ferse über das Ziel hinausschießen und das Knie verfehlen und/oder weit ausholend schwankend am Bein hinab gleiten und schließlich in einer unkontrollierten Art und Weise vom Fuß weg schwingen
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
MS kann den optischen Nerv zum Auge, der eigentlich eine Nebenstelle des Gehirns ist, beeinträchtigen. Menschen mit MS können Doppelbilder sehen oder blinde Flecken, Schwierigkeiten mit der Sehschärfe oder andere Störungen haben. Eine Augenuntersuchung sollte daher entsprechend von dem Neurologen, der auch die anderen Tests durchführt, vorgenommen werden
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
Obwohl MS bestimmte mentale Funktionen beeinträchtigen kann, ist nicht jeder MS-Patient davon betroffen, und es ist auch kein häufiges, früh zu erkennendes Anzeichen. Nichtsdestoweniger hilft die Untersuchung des Geisteszustands andere Probleme, wie z.B. affektive (Stimmung) Psychose, auszuschließen.
Depression, ein bedeutendes klinisches Problem an sich, kann auch im Rahmen der MS auftreten, wobei es schwierig ist, die genaue Ursache zu ermitteln. Kognitive Störungen, wie vorübergehender Gedächtnisverlust, Konzentrationsmangel oder Orientierungslosigkeit bezüglich Zeit und Ort können viele Gründe haben, werden aber auch häufig bei Menschen mit MS festgestellt.
Untersuchungen der mentalen Funktion schließen die folgenden Tests ein:
* nennen Sie Tag, Uhrzeit, das Staatsoberhaupt Ihres Landes (z.B. Bundeskanzler, Premierminister, Präsident, usw.), um die Orientierung hinsichtlich Zeit, Ort und Personen zu prüfen
* behalten Sie eine Liste mit drei Dingen, die nichts miteinander zu tun haben, ungefähr fünf Minuten im Gedächtnis oder wiederholen Sie eine Liste mit sieben willkürlich gewählten Zahlen vorwärts und vier rückwärts, um Ihr Kurzzeitgedächtnis zu testen
* beschreiben Sie die Farbe Ihres ersten Autos oder die Kleidung, die Sie an Ihrem Tage Ihrer Hochzeit trugen benutzen Sie abstrakte Gedanken, um Analogien zwischen zwei verschiedenen Ausdrücken zu ziehen, z.B. das Meer war wie ein blanker silberner Spiegel
* benennen Sie einfache Gegenstände, um Ihre Sprachfunktion zu testen
* imitieren Sie einfache und komplexe Fingerkonstruktionen, um räumliche Proportionen abzumessen
Es können auch andere, ähnliche Tests durchgeführt werden.
Auf den ersten Blick scheinen viele dieser Tests unkompliziert und vielleicht denken Sie, dass Sie sie zu Hause durchführen können oder in der Praxis Ihres Hausarztes. Oft sind die aufgespürten Anomalien jedoch ganz unauffällig. Daher erfordern diese Untersuchungen die fachliche Kompetenz, Fähigkeiten und Erfahrung eines Neurologen.
Ein Leitfaden für häufige neurologische Untersuchungen
Nach der klinischen Untersuchung ist es möglich, dass der Neurologe sich sicher ist, dass Sie MS haben, aber es ist ein labortechnischer Nachweis zur Bestätigung der klinischen Ergebnisse erforderlich, damit der Neurologe eine definitive Diagnose stellen kann.
Wenn verfügbar, wird auch eine Magnetresonanztomografie(MRT)–Untersuchung durchgeführt.
Es können die folgenden Tests durchgeführt werden:
Untersuchung der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit
Die Analyse der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit beinhaltet die Entnahme einer Probe von Flüssigkeit aus der Rückenmarksumgebung während einer Lumbalpunktion sowie die Untersuchung dieser Probe auf ein erhöhtes Vorkommen von weißen Blutzellen (Immunzellen) oder erhöhte Anteile von Proteinen (Antikörper), die beide jeweils normalerweise nicht in der Hirn- und Rückenmarksflüssigkeit festgestellt werden. Die Existenz von oliogklonale Banden ist ein Kennzeichen von MS und wird bei den meisten Patienten festgestellt, jedoch nicht nur bei MS-, sondern auch bei Meningitis-Patienten. Dieser Test wird nicht in allen Ländern durchgeführt.
Evozierte Potenziale
Evozierte Potenziale messen die Zeit, wie lange es dauert, bis dass Gehirn Botschaften erhält und auswertet. Sie können auditive, visuelle oder somatosensorische Eingaben messen. Dieses Verfahren mißt, obwohl es nicht-invasiv und schmerzlos ist, die elektrische Aktivität des Gehirns über Elektroden, die an bestimmten Stellen an Ihrem Schädel angebracht werden. Dieses Verfahren wird nicht in allen Ländern durchgeführt und hat seit der Einführung der MRI-Untersuchungen an Bedeutung verloren.
Eine Fehldiagnose der MS passierte früher recht häufig. Viele Ärzte mussten sich erst über einen langen Zeitraum mit der Krankheit vertraut machen, bevor sie zuverlässig eine Diagnose stellen können.
Seit es die modernen diagnostischen Möglichkeiten gibt, allem voran die Magnetresonanztomografie (MRT), kann die MS viel zuverlässiger diagnostiziert werden. Mehr als 90% aller MS–Erkankten weisen die typischen Läsionen (Plaques, Vernarbungen) im zentralen Nervensystem (ZNS) auf, die in der MRT sichtbar gemacht werden können.
Auch die Liquoranalyse, bei der die Rückenmarksflüssigkeit auf MS–typische Veränderungen untersucht werden kann, stellt einen weiteren Fortschritt dar, um die Diagnose zuverlässig sicher stellen zu können.
Trotzdem können die Anzeichen und die Symptome einer MS gelegentlich so gering sein, dass es über eine lange Zeit unmöglich ist, die MS zweifelsfrei festzustellen.
Alles in allem ist die Zuverlässigkeit der Diagnose heutzutage sehr hoch. Je eher die Diagnose gestellt werden kann, desto eher kann auch mit einer Therapie begonnen werden. Auf diese Weise kann der Krankheit sehr früh begegnet werden und ihr Einfluss auf das eigene Leben so gering wie möglich gehalten werden.